Antisemitismus 2015
Der Tagesspiegel berichtet über die aktuellen Zahlen zum Antisemitismus 2015. Dazu erklären Anetta Kahane, Benjamin Steinitz und Volker Beck:
Volker Beck MdB: „Der Rückgang gegenüber 2014 ist kein Grund zum Aufatmen. Denn erstens ist das Erfassungssystem antisemitischer Straftaten intransparent und durch die getrennte Erfassung von Antisemitismus und Israelfeindlichkeit in einem getrennten Bericht verschleiernd, zweitens hält Deutschland seine hohe Zahl antisemitischer und antiisraelischer Straf- und Gewalttaten. Die getrennte Erfassung von antisemitischer und antiisraelischer Gewalt in getrennten Studien suggeriert eine Unterschiedlichkeit, die es kaum gibt. So lange beispielsweise ein Brandanschlag auf eine Synagoge nicht als antisemitisch sondern als Teil des Nahostkonflikts gesehen wird, ist diese Aufspaltung mehr als Zweifelhaft. Auch bei der Definition von Hate-Crime (46 StGB) wurde von der Bundesregierung darauf verzichtet, Antisemitismus zu benennen. Der Antisemitismus subsumiert sich dort unter „sonstigen menschenverachtenden“ Zielen. Wenn man den Kampf gegen Antisemitismus ernst nehmen würde, würde man diesen auch beim Namen nennen. Jede einzelne der 1366 Taten ist ein konkreter Angriff auf Menschen und unsere Demokratie. Besorgniserregend ist, dass 2015, also nach dem Gaza-Krieg, das Niveau von 2013 überschritten wird.“
Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung: „Das hohe Niveau antisemitischen Alltags ist erschreckend und die Ignoranz gegenüber diesem Problem frustrierend. Mit Lippenbekenntnissen ist wird man den Antisemitismus nicht besiegen, wenn gleichzeitig die Empfehlungen von Experten und Zivilgesellschaft in der Politik nicht beachtet werden. Doch wo so viel Schatten ist, ist auch Licht: Offenbar hat sich, vielen Befürchtungen zum Trotz, die Aufnahme von einer Millionen Syrer noch nicht auf diese Statistik ausgewirkt, obwohl diese aus einem Land geflohen sind, dass Israel und das Judentum für die Quelle allen Übels betrachtet.“
Benjamin Steinitz, Projektkoordinator Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS): „Der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) sind im Jahr 2015 405 antisemitische Vorkommnisse in Berlin bekannt geworden. Darunter waren 236 Vorfälle, die als „Angriffe, massive Bedrohungen, Bedrohungen, Beleidigungen und Pöbeleien“ erfasst wurden. Mindestens 152 Personen waren betroffen. Wir wissen, dass viele Juden und Jüdinnen ihre Erfahrungen nicht zur Anzeige bringen und deshalb nicht in der offiziellen Statistik auftauchen. RIAS erfasst anders als die Polizei auch nicht-angezeigte und darüber hinaus Fälle die keine strafrechtliche Relevanz haben. Antisemitische Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze prägen die Erfahrungen von Juden und Jüdinnen im Alltag. Unser Projekt verfolgt das Ziel solche Vorkommnisse sichtbarer zu machen und somit Ansatzpunkte für gesellschaftliche Solidarität mit den Betroffenen zu schaffen. Die Beschreibungen der Betroffenen werden auf Grundlage der Arbeitsdefinition Antisemitismus aus dem Jahr 2004 als antisemitisch eingeordnet. Wenn auch die Polizei, wie zum Beispiel in England praktiziert, sich diese Arbeitsdefinition zu Eigen machen würde, wäre die Fallzahl auch in der offiziellen Statistik deutlich höher.“
Hier finden Sie den Auszug aus dem Plenarprotokoll:
Wie viele antisemitische bzw.antiisraelische Straf- und Gewalttaten ereigneten sich nach Kenntnis der Bundesregierung im Jahr 2015?
Bitte schön, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Dr. Ole Schröder, Parl.Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Frau Präsidentin! Herr Kollege Beck, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Im Rahmen des „Kriminalpolizeilichen Meldedienstes – Politisch motivierte Kriminalität“ werden die Taten, je nach Motivation, Themenfeldern/Oberbegriffen und Unterthemen zugeordnet.Antisemitische Straftaten werden dem Themenfeld/Oberbegriff „Hasskriminalität“, Unterthema „antisemitisch“, zugeordnet.
Im Jahr 2015 wurden insgesamt 1 366 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund erfasst. Die Zahl der Gewalttaten lag im vergangenen Jahr bei 36.
Antiisraelische Straftaten werden hingegen nicht in einem eigenständigen Unterthema erfasst, da im Themenfeldkatalog PMK prinzipiell keine staatenspezifische Erfassung erfolgt. Die Zuordnung ist von der jeweiligen Tatmotivation abhängig.Im Fall von antijüdischen Motiven werden sie als antisemitische Straftaten erfasst.Daneben können antiisraelische Straftaten im Themenfeld „Krisenherde/Bürgerkriege“, Unterthema „Israel/Palästinenser-Konflikt“, erfasst werden, wenn die Tatmotivation aus diesem Konflikt resultiert. Im Jahre 2015 wurden von den Ländern 62 entsprechende Straftaten gemeldet.Bei einer Tat davon handelt es sich um eine Gewalttat.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Herr Kollege Beck, Sie haben sicher eine Nachfrage.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielleicht können Sie uns einmal erläutern, wie sich diese 62 Taten zusammensetzen.Denn es ist nicht klar, ob sie antiisraelisch motiviert sind oder andere Konfliktthemen berühren; zumindest enthielt Ihre Antwort diese Information nicht.
Im letzten Jahr gab es Irritationen aufgrund der Rechtsprechung in Bezug auf Schmierereien an der Wuppertaler Synagoge.Dazu sagte das zuständige Amtsgericht, dies sei nicht antisemitisch, sondern hinge eher mit dem Nahostkonflikt zusammen, weil die Täter einen palästinensischen Hintergrund hätten.Wie stellt man sicher, dass solche Falschzuordnungen in der Kriminalstatistik nicht vorkommen?
Dr. Ole Schröder, Parl.Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Das ist von den jeweiligen Ländern sicherzustellen und dann im Zweifel auch zu korrigieren.Im Jahr 2015 gab es 62 Straftaten im Bereich „Krisenherde/Bürgerkriege“, Unterthema „Israel/Palästinenser-Konflikt“, und davon wurden 31 Straftaten als antisemitisch eingeordnet.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Herr Kollege Beck.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine zweite Nachfrage betrifft die antisemitischen Straftaten.Können Sie da etwas über die Aufteilung der Tätergruppen sagen? Wir haben da ja klassischerweise „rechts“, „links“, „Ausländer“ und „Sonstige“ als Kategorien.
Dr. Ole Schröder, Parl.Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Die Zahlen werden erst noch offiziell veröffentlicht. Es ist so, dass wir bei „PMK – links“ und bei „PMK – rechts“ etwa im gleichen Bereich liegen wie im letzten Jahr, im Bereich „PMK – Ausländer“ leicht niedriger, und bei „PMK – Sonstige“ liegen wir auch in etwa in diesemdiesem Bereich.Aber die Zahlen werden, wie gesagt, vom Innenminister noch dezidiert veröffentlicht.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann dürfen Sie die uns auch sagen im Rahmen des Fragerechts!)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Danke schön. – Wir kommen dann zur Frage 30…
Quelle: http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/18/18169.pdf (ab Seite 24)